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Enrico Ferri

 

Religion und Verbrechen

 

In: Maximilian Harden (Hg.): Die Zukunft 28 (1899)

(OCR-Fehler vorbehalten, JL, 9.9.2010)

 

Eine neue Strömung der Gesammtpsychologie geht, wenn auch nicht durch die ganze Menschheit, die im Frohndienst der Erwerbsarbeit keucht, so doch durch diejenigen sozialen Klassen, die man als leitende zu bezeichnen pflegt. Sie führt zu einem Antagonismus zwischen Wissenschaft und Religion, der sich den von Draper so meisterhast dargestellten und analysirten Konflikten anreiht. Noch hat sie das praktische Gebiet des sozialen Lebens nicht ergriffen; aber sie ist nah daran, die Grenzen der. theoretischen Kontrovertirung zu überschreiten.


Die Vertreter der Wissenschaft, Spencer, Wallace, Huxley, Richet, Berthelot, Morselli und Andere, haben mit offenem Visier gekämpft; dagegen sind die Angriffe, die angeblich zu Gunsten der Religion gegen die Wissenschaft gerichtet wurden, von Politikern ausgegangen, die mit einer mehr als zweifelhaften wissenschaftlichen Kompetenz wirklich nur sehr bescheidene religiöse Gefühle verbanden. Einige haben versucht, die öffentliche Meinung zu überrumpeln, so in Frankreich Eugène Spaller, dessen „esprit nouveau" im Gegentheil ein sehr alter Geist ist, der sich gern verjüngen möchte, und in Italien Crispi, der in Neapel ausrief: «Mit Gott, für König und Vaterland"! Als diese Versuche mißlangen, änderten die Politiker ihre Taktik. Salisbury sprach öffentlich gegen den Darwinismus und Balfour schrieb sein Buch: „Ueber die Grundlagen des Glaubens".

 

Das zwar nicht ausgesprochene, aber leicht erkennbare Ziel dieses Feldzuges, der der Religion ihr verlorenes oder erschüttertes Prestige wiedergeben soll, bietet im Grunde nur eine Täuschung dar. Denn den leitenden Klassen gilt der religiöse Glaube allerdings zum Theil um seiner selbst willen, zum Theil aber auch als ein vorzügliches Betäubung- und Einschläferungmittel für die unterdrückten Klassen. Giebt es kein himmlisches Paradies mehr, so sind die Menschen natürlich hienieden um so schwerer zufrieden zu stellen.
Es scheint unnütz, diese Fruktifizirung des „Gott-Gendarmen" im Dienste einer sozialen Klasse zu beklagen. Jede Vermehrung der natürlichen Einsichten muß dem Glauben an das Uebernatürliche weiteren Abbruch thun und die großen Kollektivbewegungen des menschlichen Geistes werden unerbittlich von den Bedingungen der sozialen Oekonomie bestimmt.

 

Aber es giebt eine Behauptung, die unter verschiedenen Formen stets als Hauptargument zur Unterstützung der Religion gegen die Wissenschaft wiederkehrt: Das ist der Einfluß, den man den religiösen Ansichten auf die Sittlichkeit der Individuen und der Gesellschaft zuschreibt. Freilich versteht man häufig unter „Volksmoral" im Grunde nur ein resignirtes Weiterschleppen des Jahrhunderte alten Joches. Ich sehe aber von der interessanten Frage hier ab, was besser ist: diese Sklavenmoral oder ein freieres Gesühl für menschliche Würde und Gleichheit.

Vielmehr beschränke ich mich darauf, hier zu untersuchen, ob die inneren Beziehungen zur Religion wirklich bestimmend für das moralische Verhalten in einem gegebenen sozialen Milieu oder ob sie nur eine nebensächliche Begleiterscheinung sind.

 

Das moralische Verhalten ist die praktische und gegenseitige Ausgleichung der egoistischen Lebensbedingungen mit den Lebensbedingungen der Anderen und umfaßt verschiedene Kategorien individueller Handlungen; jeder von ihnen entspricht eine besondere soziale Reaktion, die als Sanktion der öffentlichen Meinung, des Civilgesetzes und des Strafgesetzes zum Ausdruck kommt.

 

Um das psycho-soziologische Problem in seiner ganzen Ausdehnung zu erfassen, müßte man also den Einfluß der religiösen Ansichten nicht nur auf die Kriminalität, sondern auf die ganze soziale Moralität prüfen; denn Mancher, der nie einen Artikel des Strafgesetzbuches verletzt hat, ist zweifellos unmoralischer und schädlicher als der verurtheilte Delinquent. Aber die Moralität läßt sich in dieser Ausdehnung schwer abgrenzen. Deshalb will ich die kriminelle Verfehlung als objektives Merkmal festhalten und selbst da noch eine Einschränkung vornehmen.

 

Die Kriminalität, auch abgesehen von den politischen Verbrechen, umfaßt die verschiedensten Handlungen, sowohl in Bezug aus ihren moralischen Werth als auf ihre sozialen Folgen: von der leichtsinnigen Beleidigung durch Worte bis zur kaltblütigen Vernichtung eines Menschenlebens, vom Holzfrevel in der Noth des Winters bis zum frechen Straßenraub des Brigantaggio, von den naiven Kniffen des geschäftslustigen Verkäusers bis zum verwickeltsten und kolossalsten Betrug des gewerbsmäßigen Gauners. Um die Strahlen der wissenschaftlichen Beobachtung möglichst zu konzentriren, beschränke ich mich daher auf die Erfahrungen über das Gegengewicht des religiösen Gefühls gegen die unmenschlichste Handlung, die es giebt, den überlegten Mord.

 

Wenn die Religion wirklich die ihr zugeschriebene Kraft der Moralisirung besäße, so müßte man e oontrario durchschnittlich bei den Verbrechern Irreligiosität und bei den unbestraften Leuten entwickelte religiöse Gefühle finden. Die oberflächliche tägliche Erfahrung lehrt das Gegentheil. Unter Gottesleugnern wie unter Gläubigen giebt es ehrliche Leute und Schufte.

 

Dagegen scheint für den moralisirenden Einfluß der Religion zu sprechen, daß in unserem Jahrhundert, in dem Maße, wie die religiösen Gefühle wissenschaftlichen Kenntnissen Platz machten, auch in fast allen eivilisirten Ländern eine starke Vermehrung der Kriminalität sichtbar geworden ist. Aber diese Vermehrung ist weder in allen Ländern noch für alle Formen des Verbrechens gleich oder beständig. Es giebt fortgeschrittene Länder, in denen das religiöse Gefühl schwächer geworden ist, während sich die wissenschastlichen Kenntnisse mit großer Schnelligkeit vermehrt haben, und doch nimmt die Kriminalität dort nicht zu. Ein solches Land ist England. Und selbst in den Ländern, in denen — wie ich in meiner Sociologia Criminale dargelegt habe— die Gesammtsumme der Verurteilungen sich in den letzten fünfzig Jahren verdreifacht und vervierfacht hat, haben sich die schwereren Fälle verringert oder doch nicht stärker vermehrt, als die Bevölkerung zugenommen hat, während die weniger schweren in starker und schneller Zunahme begriffen sind. Selbstverständlich wiegen aber hundert Morde weniger im Jahr tausend Beleidigungen oder einfache Diebstähle reichlich auf.

 

Das Verbrechen als gleichzeitig biologische und soziale Erscheinung folgt der Entwickelung individueller und sozialer Bedingungen. Eine Hungersnoth steigert die Ziffer der Diebstähle und ein außergewöhnliches Wüthen der Reblaus die Ziffer der Körperverletzungen. Was der Tortur und der Todesstrafe nicht gelang: die Beseitigung des Seeraubes, Das ist der Einführung der Dampfschiffahrt gelungen. Bis in die antisozialen Formen hinein haben die Fortschritte unserer Civilisation in großem Umfang an die Stelle der ursprünglichen rohen Gewalt die List mit allen ihren Verfeinerungen treten lassen . . .

 

Ich komme aus meinen Ausgangspunkt zurück. Wenn die Religion wirklich ein antagonistischer Faktor der Immoralität und des Verbrechens wäre, so müßte man, wenn man ein Gefängniß besucht und die Gefangenen beobachtet, eine wahre Akademie des Atheismus und der Feindsäligkeit gegen die Religion kennen lernen. Dem ist nicht so. Als ich mein Werk „Der Mörder in der Kriminal-Anthropologie" (Turin 1885) schrieb, studirte ich mehr als siebenhundert Gefangene und verglich mit ihnen dreihundert Geisteskranke und siebenhundert normale Individuen. Und was ergab die Vergleichung? Die Experimentalmethode bestätigte die Analogieschlüsse der Vulgärpsychologie durchaus nicht. Als ich im Jahre l879, damals noch Student der Rechte, an der Sorbonne die berühmten Vorlesungen des Prosessors Caro über Moralphilosophie besuchte, hörte ich ihn pathetisch ausrufen: „Der Verbrecher leugnet das Verbrechen, aber er leugnet die Strafe nicht." Allerdings dürfte es schwer sein, die Strafe zu leugnen, wenn man Zuchthausgefangener ist oder aus dem Schaffot steht; aber oft geben sich Verbrecher auch gar keine Mühe, ihr Verbrechen zu verbergen oder zu leugnen. In wahrhaft typischem Leichtsinn, ohne die geringste Reue stellen sie die Beweise und Spuren ihrer Thäterschaft sörmlich aus, verbreiten selbst die Kunde ihrer Unthat und erzählen vor und nach der Ausführung von ihren Plänen. Daß die Angeklagten im Prozeß leugnen, so lange sie hoffen können, dadurch der Verurtheilung zu entgehen, ist natürlich etwas Anderes. Von siebenhundert Gefangenen, die ich gefragt habe, gestanden mir nur vierhundertundachtzig die Verbrechen ein, wegen deren sie verurtheilt worden waren. Eine andere automorphe Täuschung, die der Psychologie der normalen Seele entstammt, ist die oft gehörte Behauptung, daß die schwersten Berbrecher „jedes menschlichen Gefühls baar sein müßten." Ich habe im Gegentheil gefunden, daß — abgesehen von ihrer totalen oder partiellen kongenitalen oder erworbenen moralischen Unempfindlichkeit — die Mörder häufig ego-altruistische oder sogar altruistische Gefühle haben. Das bestätigt nur die Regel, daß die Wahrheit fast nie wahrscheinlich ist, — eine Regel, die, nebenbei gesagt, den misoneistischen Widerstand gegen jede neue Thatsache und die häufigen Irrthümer der Justiz erklärt.

 

Für das Vorhandensein religiöser Gesühle sprechen die religiösen Symbole in den Tätowirungen der Berbrecher. Bei 102 Tätowirten hat Lombroso solche Symbole 31 Mal und Lacassagne bei 378 deren 26 gesunden, ich selbst habe 26 bei 71 Tätowirten unter den von mir beobachteten 700 Gefangenen gesehen. Ein anderes indirektes Symptom ist der Glaube an gewisse Praktiken oder Gegenstände, der allerdings dem Fetischismus der Wilden gleicht. Casper erzählt, daß zu seiner Zeit die deutschen Mörder sich vor den gerichtlichen Nachforschungen geschützt glaubten, wenn sie sich am Orte des Verbrechens gewaschen hatten; in Italien glauben sie das Selbe, wenn sie den Finger in das Blut ihres Opfers tauchen und ablecken können. Die Banditen pflegen Heiligenbilder zu tragen und ich habe im Bagno von Pesaro gesehen, daß viele Gefangene sie mit aufrichtiger Inbrunst anbeteten und küßten.

 

In der Nähe von Belletri griss eine Schaar von Wegelagerern einen Postwagen an und plünderte die Reisenden. Ein Priester, der zu der Reisegesellschaft gehörte, wurde in die Berge geschleppt, aber mit der größten Ehrfurcht behandelt und entlassen, nachdem er die Amulete und Waffen der Bande gesegnet hatte. Mein Schüler und Freund Seipio Sighele besitzt das dem Briganten Biagini abgenommene Portemonnaie. Es enthielt zwei Fürbitten, die der Mörder jeden Abend andächtig hersagte.

 

Und nicht abergläubisches Wesen nur, sondern auch wirkliche Kirchlichkeit ist unter den Verbrechern häufiger, als man glauben sollte; auch ist sie nicht immer Heuchelei, bestimmt, den Verdacht abzulenken oder Arglose zu täuschen. Von den zahlreichen Beispielen, die mir zur Verfügung stehen, will ich nur Berzeni, den Frauenmörder, nennen, der häufig die Kirche besuchte und einer sehr religiösen Familie angehörte. Die berühmte Marquise von Brinvilliers war bigott und der Bandit La Gala ging regelmäßig zur Beichte. Delaeollonge, ein Priester, der seine Geliebte erdrosselte, benutzte den letzten Augenblick, um ihr die Absolution in articulo mortis zu ertheilen, und das Selbe berichtet Feuerbach von dem Priester Franz Salesius Riembauer.

 

Kennan erzählt in seinem Buch über Sibirien, daß, als die Kolonne der wegen gemeiner Berbrechen Verurtheilten, fünf bis sechs Kilometer von Tomsk entfernt, an einer kleinen Kapelle vorüberzog, zwei Drittel der Sträflinge das Bild Christi andächtig grüßten und das Zeichen des Kreuzes schlugen. Ein russischer Bauer, sagt er, mag ein Räuber oder ein Mörder sein: nie wird er vergessen, seine Gebete herzusagen. Dostojewskij, dessen „Memoiren aus einem Totenhaus" an Schilderungen Dantes gemahnen, sagt das Selbe. Dr. Marro, der fünfhundert Verbrecher studirt hat, erklärt, er habe bei ihnen religiöse Gesinnungen und Andachtübungen in ganz dem selben Verhältniß wie bei den anständigen Leuten ihrer sozialen Schicht wahrgenommen. Lombroso, Laurent, Corre. Kurella, Havelock Ellis, Mac Donald und Andere stimmen mit ihm überein. Eine ganz eigenthümliche Rolle spielt das religiöse Gefühl auch theils als Ermuthigung zum Verbrechen, theils als Hoffnung aus Bergebung. Ein junger Mann, der seinen Vater mit Stockschlägen tötete, verehrte eine Madonna des Hasses. „Und sicherlich", so gestand er bei der Verhandlung, „hat sie meine Hand geführt; denn gleich beim ersten Schlag stürzte mein Vater zu Boden." Im Jahre 1882, in dem bekannten Prozeß Fenayrou, kam zur Sprache, daß die Gattenmörderin kurz vor der That in der Kirche geweseu war, um vom Himmel das Gelingen des Verbrechens zu erbitten. Dr. Despine theilt in seiner „Psychologie naturelle" den Fall einer Frau mit, die aus Rache das Haus ihres Geliebten in Brand steekte und dabei ausrief: „Gott und die Heilige Jungfrau mögen das Uebrige thun!" Elisée Réclus sagt im zweiten Bande seiner „Géographie universelle", daß in der Bretagne, in der Nähe von Tréguier, noch jetzt eine Kapelle stehe, in der man nachts zur „Madonna des Hasses", der Trägerin der Rache, für das Gelingen wilder Berbrechen flehte; die Frau betete dort um den Tod eines verhaßten Gatten und der Sohn um das Ende eines Vaters, der ihn zu lange aus die Erbschaft warten ließ.

 

In einem von Sighele erzählten Prozeßfall hatte die Frau eines Briefträgers der Madonna ein Geschenk gelobt, falls der an Stelle ihres Mannes ernannte Briefträger getötet würde oder möglichst bald stürbe. „Am Tage des Festes erschien sie unter den dreihundert weiß gekleideten Frauen, die der Prozession folgten, in Trauerkleidung. Sie machte kein Geheimniß aus ihrem Gelübde und das Dorf wunderte sich auch gar nicht darüber."

 

Die Hoffnung aus Vergebung wird in den katholischen Ländern durch die Einrichtung der Beichte und der Absolution noch erhöht. Ein Dieb sagte mir: „Ich weiß, daß ich gesündigt habe, aber der Priester vergiebt mir nach der Beichte!" Die Kirche hatte früher sogar bestimmte Ablaßtarife. Einen solchen veröffentlichte Dupin de Saint-Andie im Jahr 1879 nach der privilegirten, im Jahre 1520 in Paris mit Erlaubniß der Vorgesetzten von Toussaint Denis veranstalteten Ausgabe der „Taxes de la Pénitencerie apostolique«. Ein Laie, der einen Priester getötet hat, bezahlt 7 „Grossi", wenn er einen Laien getötet hat, 5 „Grossi". Eben so war für Brände, Diebstähle u. s. w. ein fester Satz ausgestellt. So kann die Religiosität als Anregung zum BVerbrechen wirken, — entweder indirekt, wie in den angesührten Füllen, oder sogar direkt. Denn der religiöse Fanatiker bewaffnet sich eben so wie der politische mit dem Dolch des Mörders.

 

Allerdings gab es auch sehr intelligente Berbrecher, zum Beispiel Lacenaire, Lemaire, Mandrin, La-Pommeraie, die sich zum Atheismus bekannten; aber sie bilden nur eine kleine Minderheit. Von den durch mich untersuchten Gefangenen gestand mir nur ein einziger, er glaube nicht an Gott. Ein anderer zeigte sich völlig gleichgiltig, sieben waren sehr fromm, viele sagten, sie glaubten an Gott und auch an die Kirche, während manche, besonders die, die aus Städten kamen, erklärten, sie glaubten an Gott, hielten aber nichts von der Kirche und der Geistlichkeit. Das hinderte sie freilich nicht, gerade aus dem religiösen Gefühl Entschuldigungen für sich zu schöpfen, „denn" — sagte mir ein Dieb — „Gott giebt uns ja den Instinkt, zu stehlen", während ein Anderer meinte, „die Verbrechen seien keine Sünden, da ja auch die Priester solche begehen". In seinem Gesängniß saßen drei verurtheilte Geistliche.

 

Auch die folgende Thatsache ist von psychologischem Werth: Als ich die Berbrecher an die ewigen Strafen und je nach dem Fall an die spezielle religiöse Strafsatzung gegen das Verbrechen erinnerte, brachten sie dieser Sanktion die selbe typische Sorglosigkeit entgegen, die sie gegenüber den Sanktionen der weltlichen Gesetze bewiesen hatten. Aus meine Frage, ob er die Hand Gottes nicht fürchte, erwiderte ein Mörder: „Gott hat mich ja bis jetzt nicht gestraft." „Aber Sie werden in die Hölle kommen!" „Möglich, daß ich hinkomme, aber auch möglich, daß ich nicht hinkomme!" Und Einer, der sich sür besonders aufrichtig hielt, sagte aus meine Bemerkung, Gott würde ihn strafen: „Na, Das wollen wir sehen, wenn wir so weit sind."
Mit Bayle, der in den „Pensées diverses à l’occasion de la comète de 1680" (Haag 1737, Band III. §§ 134, 135, 172, 174) behauptete, daß „die Erfahrung die Annahme bekämpfe, der Glaube halte vom Berbrechen zurück" und „der Atheismus an sich sei keine Ursache der Immoralität", stimmen alle Kriminalanthropologen überein. Wie will man sonst auch erklären, daß aus dem Lande, wo sich zweifellos das religiöse Gesühl viel lebendiger erhalten hat als in den Städten, die schwersten Verbrechen doch keineswegs seltener sind?

 

In Wirklichkeit ist das religiöse Gesühl immer der Entwickelung des Moralsinnes nachgefolgt, von den Epochen der rohesten Unkultur bis auf unsere Zeit, und es hat sich dabei auch immer den verschiedenen Bedingungen des sozialen Lebens angepaßt, so daß zum Beispiel unter wilden Barbaren Moral und Religion den Kindesmord billigten, während es da verboten ist, wo ausreichende Subsistenzmittel für eine starke Nachkommenschaft vorhanden sind. Das religiöse Gefühl der Gegenwart ist nicht, wie der Moralsinn, aus den Beziehungen der Menschen zu einander entstanden, die die soziale Koexistenz herbeigeführt haben, sondern erst nachher. Das moralische Verhalten der Menschen nach ihren wissenschaftlichen oder politischen Ueberzeugungen und nach ihren Glaubensansichten zu beurtheilen, ist nichts als ein tief wurzelnder Irrthum. Abgesehen von den mehr oder weniger pathologischen Ausnahmen giebt es ehrliche Leute und Missethäter eben so unter den Gelehrten wie unter den Ungelehrten, unter konservativen Politikern wie unter Umstürzlern. Einer der Fundamentalsätze der positiven Psychologie lautet: Der Mensch handelt nicht so, wie er denkt, sondern so, wie er fühlt.

 

Darum sagte auch Royer-Collard mit Recht, daß die Menschen nie ganz so schlecht seien wie ihre Grundsätze. Und schon Bayle schrieb, Das, was das Handeln bestimme, seien nicht die Meinungen des Verstandes, sondern die Leidenschaften des Herzens. Das Temperament, die Triebe, die daraus sich entwickelnden Gewohnheiten und die aus Alledem hervorgehende bessere oder schlechtere Anpassung an das Milieu regeln in Wahrheit das moralische Verhalten und bilden Das, was man den moralischen oder sozialen Sinn nennt. Das religiöse Gesühl kann ihn nur verstärken, wenn er vorhanden ist, kann ihn aber nicht ersetzen, wenn er in Folge von Entartung, in Folge pathogener Veranlagung oder in Folge vorübergehender Störungen der normalen Beschaffenheit überhaupt fehlt. Darum ist es eine Illusion der Leute, die schon an sich gut sind und in ihrem Gewissen sühlen, daß das religiöse Gefühl die Funktionen ihres Moralbewußtseins sanktionirt und befestigt, zu glauben, die Moralität werde von dem religiösen Gefühl und nicht von diesem moralischen oder sozialen Sinn bestimmt. Und aus dieser Illusion geht die andere hervor, daß, wenn die moralische Anlage fehlt, sie in der Dynamik der menschlichen Handlungen durch das religiöse Gesühl ersetzt werden könne, — was eben nicht der Fall ist. Die Religion kann also unmoralische Individuen nicht moralisch machen. Und Das ist so wahr, daß selbst der Gottesbegriff der Gläubigen je nach Temperament und Charakter variirt und sich anpaßt, so daß der friedliche und gute Mensch einen Gott der Liebe und der Verzeihung verehrt, während der gewaltthätige und böse Mensch einen grausamen und rächenden Gott anbetet; eben so wie sich der Charakter der Völker in ihren Glaubensansichten wiederspiegeln.

 

Mag die künstliche Verstärkung des religiösen Gefühls also ein brauchbares Mittel und ein egoistischer Wall gegen die Bewegung des modernen Volksgeistes sein: als ein Mittel und einen Wall gegen die Immoralität kann die experimentelle Kriminalpsychologie das religiöse Gefühl nicht anerkennen.

 

Fiesole. Professor Enrico Ferri.